Von Christian StangTÜRKEI Hessen und Bursa reden wieder miteinander / Im Land herrscht ein Klima der Anspannung
WIESBADEN - In politisch angespannten Zeiten zählt auch die kleine Geste. Gleich zu Beginn der viertägigen Türkei-Reise der hessischen Europaministerin Lucia Puttrich sorgt Izzettin Kücük, Gouverneur der hessischen Partnerregion Bursa, an diesem kalten und verregneten Montagmorgen für ein wenig Aufhellung. Schon am Eingang seines Amtes empfängt der AKP-Mann die Delegation der CDU-Politikerin. Durchaus nicht üblich, wie Kenner diplomatischer Gepflogenheiten anmerken. Und am Ende der 40-minütigen Unterredung lässt Kücük sogar einige Fragen der mitgereisten Journalisten zu, obwohl eigentlich nur ein kurzer Fototermin vorgesehen war.
Nach dem gescheiterten Putsch im Juli vergangenen Jahres würden die Verantwortlichen nach den Prinzipien des Rechtsstaats behandelt, sagt der Vertreter der Regierungspartei von Staatspräsident Erdogan. Und pflichtgemäß ergänzt er: „Wir achten die Regeln“. Als die Medienvertreter auch noch wissen wollen, woran der Besuch aus Hessen im vergangenen September gescheitert sei, antwortet Kücük ausweichend. Das türkische Protokoll wird nervös und weist den Journalisten den Weg nach draußen. Eine Randnotiz. Denn das Ziel der Reise ist es nicht in erster Linie, die politische Großwetterlage zu erörtern, auch wenn das bevorstehende Referendum zur Verfassungsreform Inhalt und Atmosphäre der Gespräche stets und deutlich mitprägt. Es gehe darum, die eingeschlafenen Kontakte mit der Partnerregion Bursa wieder mit Leben zu füllen, sagt Puttrich nach dem Gespräch. Offen und ernst sei die Unterredung gewesen, höflich und freundlich. Die Vokabel freundschaftlich passt zweifelsfrei nicht in die schwierige Zeit. Wichtig sei, dass man wieder miteinander, anstatt übereinander rede, so lautet übereinstimmend die Einschätzung der mitgereisten Parlamentarier Holger Bellino (CDU), Ursula Hammann (Grüne), Willi van Ooyen (Linke) und der fraktionslosen türkischstämmigen Mürvet Öztürk. Atmosphärisch aber spüre man, dass die Türkei sich verändert habe.
- POSITIVES FAZIT
Die hessische Europaministerin Lucia Puttrich hat für vier Tage die türkische Partnerregion Bursa und Istanbul besucht. Die CDU-Politikerin zog ein positives Fazit der Reise. Trotz einer schwierigen politischen Großwetterlage sei es gelungen, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Differenzen seien in ernstem, aber höflichen Ton angesprochen worden.
Kamerateam von der Polizei festgehalten
Das bestätigt sich im Stadtbild der 1,4-Millionen-Stadt Bursa. „Evet“ liest man auf Plakaten an jeder Straßenecke und auf Bussen, die lärmend für ein „Ja“ beim Referendum am 16. April werben. „Hayir“, also „Nein“, ist praktisch nicht existent. Beim Gang durch Bursa treffen wir auch Gegner Erdogans. Zweifellos gibt es sie, aber sie wollen sich nicht äußern. Anspannung und Angst vor Repressalien sind allgegenwärtig. Befürworter der Verfassungsreform beantworten dagegen bereitwillig unsere Fragen. Man respektiere die „Nein-Sager“, niemandem werde ein Votum aufgezwungen, sagt Onor Topü, ein junger Türke, der in Augsburg lebt und in der Heimat zu Besuch ist. Das Klima sei heute offener als früher. Das Volk sei reif genug für eine Entscheidung, meint der Geschäftsmann Vahap Taran, der mit Goldschmuck handelt. Mit der Verfassungsreform würden die Rechte des Parlaments keineswegs eingeschränkt.
Rasch bilden sich Menschentrauben um die Journalisten. Doch die beiden Kamerateams wecken nicht nur die Neugier der Passanten. Misstrauisch geworden, ruft der private Wachdienst der Einkaufs-Mall die Polizei. Eines der Teams wird festgehalten und eingehend befragt, die Polizisten sichten das gedrehte Material. Riskante Augenblicke vor allem für den Kameramann Fatih, der auch einen türkischen Pass besitzt. Es erweist sich als Glücksfall, dass sich kein „Nein-Sager“ vor der Kamera äußern wollte. Nach einer Stunde lässt die Polizei die Journalisten wieder ziehen.
Oppositionsvorwürfe an die Bundesregierung
Stündlich müsse er mit seiner Verhaftung rechnen, erzählt uns der Aktivist Gökhan Bicici, der die digitale Nachrichtenagentur „Dokuz 8 News“ betreibt. Über die sozialen Medien, die bisher kaum Einschränkungen unterliegen, wirbt er für Meinungs- und Pressefreiheit und ein „Nein“ beim Referendum. Er hält es nicht für unwahrscheinlich, dass Erdogan die Abstimmung verlieren könnte.
Darauf hofft auch die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP. Bei einem Mittagessen zieht der Abgeordnete Baris Yarkadas zünftig vom Leder – gegen die Bundesregierung. Sie habe sich hinter Erdogan gestellt. Die türkische Opposition fühle sich alleine gelassen. 20 Minuten hört Puttrich der Philippika geduldig zu. Höflich, aber bestimmt weist sie die Vorwürfe zurück.
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